Annahme von Neufällen kann Wegfall der steuerlichen Begünstigungen bedeuten
Ärzte, Steuerberater, Rechtsanwälte und andere Freiberufler bauen durch ihre Tätigkeit bis zum Eintritt in den Ruhestand wertvolle Vertrauensverhältnisse zu ihren Patienten bzw. Mandanten auf. Der spätere Verkauf der Praxis/Kanzlei beim Übergang in den Ruhestand führt dementsprechend zu einem nicht unerheblichen Veräußerungsgewinn. Begünstigt ist dieser Veräußerungsgewinn in zweifacher Hinsicht: Durch den Freibetrag gem. § 18 Abs. 3 Satz 2 EStG i. V. mit § 16 Abs. 4 EStG und die Tarifbegünstigungen des § 34 EStG (Fünftelregelung oder alternativ 56 % des durchschnittlichen Steuersatzes). Bleibt der Veräußerer in geringfügigem Umfang weiter tätig, kann dies den Wegfall der Begünstigungen zur Folge haben. Anhand eines Fallbeispiels wird nachfolgend die brisante Ansicht der Finanzverwaltung dargestellt.
Fallbeispiel
Ein 60-jähriger Arzt veräußert seine Arztpraxis. In Absprache mit seinem Nachfolger behandelt er einige Privatpatienten weiter und übernimmt auch einige Neufälle.
Bearbeitung von Altfällen innerhalb der 10-%-Grenze unschädlich
Einigkeit besteht zwischen Finanzverwaltung und Rechtsprechung darüber, dass eine geringfügige Weiterbehandlung von Altfällen nicht zu einem Wegfall der Begünstigungen führt. Maßgeblich ist insoweit, dass die auf die übernommenen Patienten/Mandanten entfallenden Einnahmen vor der Veräußerung nicht mehr als 10 % der Gesamteinnahmen ausgemacht haben. Es kommt also nur auf die Einnahmen vor der Übergabe an, so dass eine deutliche Umsatzsteigerung mit den Altfällen nach der Veräußerung unschädlich ist. Hergeleitet wird die 10-%-Grenze im Wesentlichen aus der Überlegung, dass der Kundenstamm zwar als wesentliche Betriebsgrundlage mit übertragen werden muss, die Übertragung des Kundenstamms aber nicht voraussetzt, dass jede einzelne Kundenbeziehung (Patient/Mandant) auf den Erwerber übergeht.
Aufnahme von Neufällen steuerschädlich?
Uneinigkeit besteht dagegen bei der Frage, ob die Aufnahme von neuen Patienten/Mandanten trotz Unterschreitung der 10-%-Grenze schädlich sein kann. Nach Ansicht der OFD Koblenz fallen aufgrund der Übernahme der Behandlung der Neufälle rückwirkend sämtliche Steuerbegünstigungen aus der Praxis-/Kanzleiveräußerung weg. Bereits das BMF hatte mit Schreiben v. 28. 7. 2003 mitgeteilt, dass allen Freiberuflern – also auch Steuerberatern, Rechtsanwälten usw. – im Fall der Hinzugewinnung neuer Patienten/Mandate die Begünstigungen der §§ 16, 18 und 34 EStG zu versagen sind. Einen gegebenenfalls schon bestandskräftigen Bescheid würde die Finanzverwaltung nach § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO ändern. Der BFH hat sich nie dahingehend geäußert, dass die Betreuung von neuen Patienten/Mandanten nicht unter die 10-%-Grenze fällt. Vielmehr ist beim BFH eine Tendenz erkennbar, dass die Annahme von neuen Fällen unterhalb der Geringfügigkeitsgrenze unschädlich ist. So hat der BFH z. B. mit Urteil v. 7. 11. 1991 entschieden, dass die Fortführung einer betriebsärztlichen Tätigkeit dann nicht zum Wegfall der Begünstigungen führt, wenn sie die 10-%-Grenze unterschreitet. Dass der BFH an dieser Stelle nicht geprüft hat, ob es sich bei den betreuten Firmen um Alt- oder Neufälle handelte, deutet darauf hin, dass die Unterscheidung für den BFH keine Rolle spielte. Ausgangsüberlegung des BFH ist, dass auch die Möglichkeit in dem durch die bisherige Berufstätigkeit bestimmten Wirkungsfeld neue Patienten/Mandanten gewinnen zu können, als wesentliche Betriebsgrundlage angesehen werden muss. Insoweit läge keine Übertragung aller wesentlichen Betriebsgrundlagen vor, wenn der Veräußerer unweit von seiner alten Praxis eine neue Praxis eröffnet, auch wenn er sich auf die Behandlung von Neufällen beschränkt. Andererseits muss der oben genannte Grundsatz – Fortführung von wenigen Altfällen schließt nicht die grundsätzliche Übertragung des Kundenstamms aus – auch für Neufälle gelten. Hiernach kann bei der Übernahme weniger Neufälle nicht angenommen werden, dass eine wesentliche Betriebsgrundlage, nämlich die Möglichkeit aufgrund des Praxisnamens neue Patienten zu gewinnen, zurückbehalten wurde. Im Ergebnis ist es daher nicht nachvollziehbar, dass die Finanzverwaltung die Weiterbehandlung von Altpatienten als unschädlich ansieht, die Aufnahme von Neufällen dagegen als Fortführung der ärztlichen Tätigkeit.
Gestaltungshinweise
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die freiberufliche Tätigkeit unmittelbar nach der Veräußerung oberhalb der 10-%-Grenze unter Annahme auch von Neufällen innerhalb des gleichen Wirkungskreises fortzusetzen und gleichwohl die Voraussetzungen der Finanzverwaltung zu erfüllen.
Veräußerer wird als Angestellter tätig
Behandelt der Veräußerer alte oder neue Patienten als Angestellter, führt er seine Tätigkeit zwar unverändert fort. Da er aus steuerlicher Sicht aber nach der Veräußerung Einkünfte aus nichtselbständiger Tätigkeit erzielt, ist die selbständige Tätigkeit aufgegeben. Dies gilt im Übrigen selbst dann, wenn der Veräußerer seine Tätigkeit als Geschäftsführer einer GmbH fortsetzt, an der er zu 100 % beteiligt ist, da sich auch in diesem Fall die Tätigkeit nicht auf das eigene, sondern auf ein fremdes Vermögen erstreckt.
Veräußerer wird auf freiberuflicher Basis für den Erwerber tätig
Auch wenn der Veräußerer auf freiberuflicher Basis für den Erwerber tätig wird, liegt keine Fortführung seiner Tätigkeit vor, da in diesem Fall der Veräußerer nicht die Grundlagen seines bisherigen Betriebs verwertet, sondern lediglich dem Erwerber hilft, seinen neuen Betrieb zu betreiben.
Veräußerer führt eine wesensmäßig unterschiedliche Tätigkeit fort
Der BFH sieht die Fortführung einer wesensmäßig verschiedenen Tätigkeit als unschädlich an. Eine wesensmäßige Verschiedenheit hat der BFH für die Tätigkeiten eines niedergelassenen Arztes für Allgemeinmedizin einerseits und eines Betriebsarztes andererseits angenommen. Als Vergleichsmaßstab werden die Teilbetriebskriterien herangezogen. Keine Verschiedenheit soll nach einer Entscheidung des FG Saarland vorliegen, wenn ein Arzt seine Allgemeinarztpraxis veräußert und eine Praxis für Naturheilkunde eröffnet.
Fazit
Bei der Fortführung der Tätigkeit nach Veräußerung der Praxis bzw. Kanzlei sollte nicht nur die 10-%-Grenze für die Altfälle im Auge behalten werden, sondern auch die Auffassung der Finanzverwaltung zu den Neufällen. Auch nach Ansicht der Finanzverwaltung gibt es Möglichkeiten, die Tätigkeit ohne Wegfall der steuerlichen Begünstigungen fortzuführen. Sofern es für eine Gestaltung im Sinne der Finanzverwaltung zu spät ist oder diese aus tatsächlichen Gründen nicht in Frage kommt, bestehen auch bei der Annahme von Neufällen, jedenfalls bei einem Unterschreiten der 10-%-Grenze, gute Erfolgsaussichten bei einer Klage.
Weiterführende Hinweise:
OFD Koblenz, Kurzinformation Einkommensteuer v. 15. 12. 2006 – S 2249 A – St 31 1 BAAAC-34369
BMF, Schreiben v. 28. 7. 2003 – IV A 6 – S 2242 – 4/03 KAAAB-15204
BFH, Urteil v. 4. 11. 2004 – IV R 17/03 MAAAB-42571
BFH, Beschluss v. 6. 8. 2001 – XI B 5/00, nv XAAAA-66562
BFH, Urteil v. 10. 6. 1999 – IV R 11/99, nv JAAAA-63311
BFH, Urteil v. 7. 11. 1991 – IV R 14/90 JAAAA-94085
FG Saarland, Urteil v. 30. 3. 2006 – 1 K 401/02 MAAAB-82699
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